Viele Besucher meiner Fallhütte wollen etwas über die Geschichte Neidingens wissen. Deswegen bin ich dankbar, dass mir Bärbel Huhn, eine „echte“ Neidingerin, vor einigen Jahren die Kopie einer Postkarte mit einem Foto von Neidingen am Anfang des 19. Jahrhunderts überließ. Das Foto hat mich veranlasst, einige historische Fakten über unseren kleinen Ort links der Donau zusammenzutragen.
Dass Neidingen damals ein Postkartenmotiv war, belegt, dass der Ort seit über 100 Jahren für Naturfreunde interessant ist. Tatsächlich ist Neidingen günstig gelegen. Die ersten Siedler werden den Platz wegen der frühen Morgensonne ausgesucht haben. Trotz Tallage scheint schon früh morgens die Sonne auf den Hang unterhalb des Reiftals, einer Seitenschlucht des Donautals. Wer den steilen Pfad durch das Reiftal hinauf geht, gelangt schließlich über eine Treppe auf die bewaldete Hochebene.
Tagsüber lassen sich am Steilhang des Gaisenfelsens im Reiftal Gämsen und Rehe beobachten. In der Dämmerung wird die Stille vom Uhu unterbrochen, der seit vielen Jahrzehnten irgendwo im Rossfelsen oberhalb von Neidingen seinen Unterschlupf hat.
Auf der anderen Seite der jungen Donau bietet der Lenzenfelsen einen tollen Ausblick auf Neidingen. Gegenüber von Neidingen erleuchtet die untergehende Sonne den hoch aufsteigenden Schaufelsen in immer neuen Farbvariationen. Hundertzwanzig Meter hoch ist der Schaufelsen, die größte Felsformation nördlich der Alpen. Besonders spektakuläre Färbungen des Felsens tauschen die Neidinger gerne untereinander aus.
Die Neidinger Geschichte
1390 wird Neidingen zum ersten Mal urkundlich erwähnt. Damals war der Ort unter der Herrschaft Falkenstein. Es folgte die Herrschaft Hausen. Der letzte Hausener Besitzer stirbt am Ende des Dreißigjährigen Krieges. Neidingen mit Hausen im Tal fällt 1629 mit dem Schloss Werenwag an die Donaueschinger Landgrafen von Fürstenberg-Heiligenberg. 1699 gaben sie Neidingen mit dem Schloss nicht ganz freiwillig an die Freiherren von Ulm zu Erbach ab. Erst 1830 kommt Werenwag wieder in den Besitz der Fürstenberger. Zwischenzeitlich war Neidingen eine vorderösterreichische Besitzung, gehörte also zu den Wiener Habsburgern. Irgendwann waren auch die Augsburger Fugger die Herren von Neidingen. Wahrscheinlich wussten sie es nicht einmal. 1805 wurde Neidingen württembergisch, 1810 badisch. Seit 1974 gehört Neidingen zusammen mit Thiergarten, Langenbrunn und Hausen i.T. zur Gemeinde Beuron.
Die Feldpostkarte verschickten im November 1916 zwei Damen namens Anna und Hedi an einen Wilhelm von Ahnen.

Grüße an einen Soldaten
Der war im Ersten Weltkrieg offenbar im Elsass, genauer in Zabern (Saverne), stationiert. Abgestempelt ist sie zwei Mal. Einmal in Stetten am kalten Markt und ein zweites Mal von der Kommandantur Heuberg, das war wahrscheinlich die Zensurbehörde.
Das Neidingen von 1910
Auf der Karte ist im Vordergrund die alte Donaubrücke zu sehen. Die Hauptwege im Tal verliefen damals von Nord nach Süd, nicht entlang der Donau. Einer alten Erzählung zufolge befand sich auf dem Hügel südlich der Donau eine Klosteranlage, also gegenüber von Neidingen auf der anderen Seite der Donau. Wenn das so war, dann gibt es heute jedenfalls nur noch ein paar Vertiefungen im Wald.
Die Gebäude auf der Postkarte sind auch hundert Jahre später bewohnt. Auf der linken Seite befindet sich ein ansehnlicher Hof, der der Familie Briel gehörte. Davor steht ein Haus, in dem sich später, nachdem die Straße durchs Donautal gebaut worden war, das erste Lebensmittelgeschäft der Familie Beha befunden hat. Die heutige L277 wurde erst Ende der 1950er Jahre zwischen Thiergarten und Tuttlingen in Betrieb genommen.
Neidingen am Anfang des 19. Jahrhunderts
Im Hintergrund ist das Haus der Familie Pfeiffer in der heutigen Fallstraße 21 zu erblicken. Ich erwarb das Haus von Frau Pfeiffer, die damals schon weit über 80 war, aber eine harte Verhandlerin. Daneben sieht man das Dach des Hauses der Familie Neher, die eine Brennerei und eine Küferei betrieben. Weiter rechts oben steht ein Gebäude, das vielleicht das Rathaus war.
Der hölzerne Bau am Ortseingang rechts ist ein Bahnwärterhäuschen der Deutschen Reichsbahn. Davon ist heute außer einem Rosenstrauch nichts mehr da. Den hatte das Bahnpersonal angepflanzt. Er blüht noch heute jedes Jahr. Die Bahnlinie durch das Donautal wurde viele Jahre vor der Straße gebaut, und zwar ungefähr 1890. Beim Bau spielten, wie ich las, militärische Überlegungen eine Rolle. Bei einem Krieg gegen Frankreich wollte der deutsche Generalstab nicht eine Bahnstrecke zur Versorgung der nördlichen Frontlinien nutzen, die durch die Schweiz ging.
Karl der Dicke, Neudingen und das belgische Neidingen
Im englischsprachigen Wikipedia heißt es: Neidingen is a German village with approximately 100 inhabitants and part of the municipality of Beuron, in Baden-Württemberg. The village is historically important as health retreat and place of death of Emperor Charles the Fat (d. 888). Das stimmt nicht.
Kaiser Karl III. mit dem Beinahmen „der Dicke“ war ein direkter Nachfahre von Karl dem Großen, der sich im Jahr 800 in Aachen zum ersten Kaiser des römischen Reiches Deutscher Nation krönen ließ. Aber der Wikipedia-Autor hat Neidingen mit Neudingen bei Donaueschingen verwechselt. Neudingen war schon im 9. Jahrhundert im Besitz der Fürsten von Fürstenberg und so ein Besuchsort des deutschen Hochadels. Karl III. starb dort. Meine amerikanische Verwandtschaft bedauert sehr, dass ich nicht lebe, wo ein deutscher Kaiser starb.
In den ersten Jahren kannte Google Maps übrigens nur das belgische Neidingen, der einzige Ort in der Welt gleichen Namens. Meinen Besuchern musste ich empfehlen, Beuron als Ziel anzugeben.
Die St.- Agatha-Kapelle
In der Mitte rechts zeigt das Foto von 1910 die heutige Agatha-Kapelle. Bis 1838 stand sie in der Ortsmitte, wie das Gemälde des Hüfinger Malers Martin Menrad (1636 – 1707) zeigt. Menrad fertigte das Bild 1688, es gilt als die erste Darstellung von Neidingen. Diese und andere Ortsansichten entstanden im Auftrag des Landgrafen Anton-Egon von Fürstenberg-Heiligenberg, der alle seine Besitztümer auf Leinwand haben wollte.

Das Gemälde von Martin Menrad aus dem Jahr 1688
Ein Wassersturz aus dem Reiftal zerstörte 1838 die alte Kapelle. Ein Jahr später errichtete man die Kapelle neu, diesmal auf der Anhöhe am Ortsausgang.
Die Neidinger Mühle
Die Geschichte von Neidingen kann nicht ohne die Neidinger Mühle erzählt werden. Die Familie Meschenmoser betrieb die Mühle vermutlich schon im 18. Jahrhundert. Das Mahlwerk wurde nicht vom Donauwasser angetrieben, sondern von Quellwasser, das aus dem Berg kam. Irgendwann kam zur Mühle eine Gastwirtschaft hinzu, die bis ins 21. Jahrhundert weithin bekannt war. Die Bauern, die mit ihren Ochsenkarren voll Weizen zur Mühle fuhren, hatten in der Erntezeit lange Wartezeiten, bis sie an der Reihe waren. Ein unternehmungslustiges Mitglied der Familie Meschenmoser sah darin eine Geschäftsmöglichkeit. Sehr zur Freude der einheimischen Bevölkerung. Der Stammtisch in der Mühle, eine Institution, existierte bis ungefähr 2010. Jemand wie Ihr Berichterstatter erhielt erst nach Jahren das Recht, dort Platz zu nehmen. Zum Beispiel, um über Lokalpolitik zu diskutieren..
Von Karl-Anton Marquart, einem weiteren Zeitzeugen aus dem Donautal, stammt ein anderes historisches Bild der Mühle. Karl-Antons Vater arbeitete bei der Reichsbahn in Reutlingen. Dort lebte auch die Familie, bis es zu einem tragischen Unfall kam. Der junge Karl-Anton zog danach mit seiner Mutter zurück ins Donautal, wo er bis heute wohnt.

Vor der Neidinger Mühle, ca. 1850
Die Neidinger Mühle war nicht die einzige Mühle an der Oberen Donau. Die Neue Mühle zwischen Neidingen und Thiergarten und die Dietfurther Mühle, die das Wasser der Donau für den Antrieb von Mahlwerken nutzten, liegen keine fünf Kilometer entfernt. Die Bauern steuerten wegen der mühevollen Reise immer die nächstgelegene Mühle an.
Rechts und links der Donau liegen bis heute größere Flächen für den Anbau von Getreide. Die Neidinger Mühle war die nächste für Bauern aus Schwenningen, Glashütte, Stetten a.k.M. und Kreenheinstetten. Heute gibt es nur noch Wanderer, die den Weg hinunter zur Mühle und nach Neidingen gehen. Sie kommen an den Steighöfen vorbei, wo heute ein Naturfreundehaus steht.

Wagenradspur im Fels oberhalb von Neidingen/Quelle:Diana Gratz
Wer die Steigung nicht scheut, sieht dann die Fahrspuren der Ochsenkarren, die sich bis heute im Fels erhalten haben. Für Mountainbike-Fahrer ist genau diese Stelle eine Herausforderung Nur wenige schaffen die Bergauf-Fahrt, ohne abzusteigen. Der Verfasser dieser Zeilen fuhr in jüngeren Jahren mit seiner Tochter auf dem Rücksitz diese Steigung hinauf, bis es zu gefährlich wurde. Die Tochter wurde schwerer und der Radler schwächer.
Der BMW-Händler und Landypoint
Anfang der 1960er Jahre eröffnete ein aus dem Allgäu zugezogener Mann namens Eugen Keller eine BMW-Niederlassung in der unmittelbaren Nachbarschaft der Neidinger Mühle. Eugen Keller war, wie Zeitzeugen bestätigen, sehr erfolgreich. Er verkaufte viele BMW-Neuwagen, seine Werkstatt war gut ausgelastet. Aber die BMW AG konnte sich immer weniger damit abfinden, dass ihre Fahrzeuge in einem Ort mit weniger als 100 Einwohnern verkauft wurden. Das Unternehmen befürchtete, dass sich in der regionalen Metropole Sigmaringen eine andere Marke etablierte.
Eugen Keller kämpfte um seinen Neidinger Standort. Im Obergeschoss befand sich seine Privatwohnung. Er investierte noch Ende der 1990er Jahre auf Druck von BMW in die Werkstatt viel Geld. Gleichzeitig eröffnete er in Sigmaringen einen neuen Standort. Im Kaufland in Sigmaringen hing bis nach 2010 ein großes Reklameschild des BMW-Autohauses Keller über der Rolltreppe. Da war das Autohaus Keller schon lange Geschichte. Eugen Keller nahm sich im Dezember 2001 das Leben. Tage später musste das Unternehmen Konkurs anmelden.
Verkaufsräume und Werkstatt in Neidingen standen danach vier Jahre leer. Bis der Sigmaringer Unternehmer Urs Stiegler, der größte Restaurateur von historischen Land Rover-Fahrzeugen in Europa, das Potential des Standorts für sein Unternehmen erkannte. Er siedelte seinen Betrieb von Sigmaringen in das Donautal um. Seitdem herrscht wieder Leben, wo die Vision von Eugen Keller starb. Alte Land Rover traten die würdige Nachfolge der neuen BMW an.
Ein 50 Jahre alter Land Rover
So hat heute einer der großen Gewerbesteuerzahler der Gemeinde Beuron seinen Sitz im kleinen Neidingen. Ganz ohne Subventionen. Ein geplantes Land Rover-Museum kam leider nicht zustande.
Neidingen sollte ein Teil von Sigmaringen werden
Nicht nur ich stelle mir die Frage, ob die Zugehörigkeit Neidingens zur Gemeinde Beuron von Vorteil ist. Theoretisch ist ein selbständiges Beuron zwar in der Lage seine Entwicklung zu seinem Besten eigenständig zu gestalten. Andere kleine Gemeinden wie z.B. Leibertingen haben das durchaus erfolgreich vorgemacht.
Aber Beuron ist eine Stätte des Stillstands. Nur die notwendigsten Dinge werden von den jeweiligen Bürgermeisterdarstellern in Angriff genommen: Schlaglöcher in Straßen, neue Leitungen, ein Kindergarten-Neubau. Die meisten anderen Projekte dienen wie so oft in kleinen Orten überwiegend privaten Interessen.
Die Verantwortlichen der letzten Jahrzehnte hatten weder die Fähigkeiten noch das Interesse, die 1974 mehr oder weniger willkürlich zusammengebrachten Ortsteile zu einer Gemeinde Beuron zu entwickeln. Es interessierte sie nicht einmal, ob die Kinder aus dem Ortsteil Beuron in den Kindergarten nach Hausen gehen.
Auch wirtschaftlich hat die Gemeinde den Anschluss an die positive Entwicklung des Landes Baden-Württemberg verloren. Das hat mittlerweile einen negativen Einfluss auf die Lebensqualität der Menschen in Neidingen und ihrer Gäste (z.B. kein Laden in der Nähe mehr, schlechter ÖPNV, keine Gastronomie mehr, etc.). Touristen werden von der Gemeinde Beuron als Plage und nicht als Chance angesehen.
Es ist höchste Zeit, dass Neidingen und die anderen Beuroner Teilgemeinden eine professionelle Gemeindeverwaltung bekommen. Beuron hat in Jahrzehnten die Zeit der kommunalen Selbstständigkeit nicht sinnvoll genutzt. Thiergarten und Neidingen sollten daher an Sigmaringen gehen, der Rest nach Tuttlingen.