Das Bild hat Vanessa, ein neunjähriges ukrainisches Mädchen gemalt. Auf dem Bild steht der Name der Stadt, aus dem es mit seiner Mutter geflohen ist: Krywyj Rih. Die ostukrainische Stadt wird besonders oft mit Drohnen und Raketen angegriffen, weil es die Geburtsstadt des aktuellen ukrainische Präsident ist. Das Mädchen und seine Mutter habe ich in Berlin-Tegel getroffen, dem größten Flüchtlingslager Europas. In diesem Lager arbeitete ich von Januar bis März 2023 als Betreuer und Übersetzer für ukrainische Kriegsflüchtlinge. Das Lager kommt wegen seiner schlechten Bedingungen nicht aus den Schlagzeilen.
Warum die meisten 2022 kamen
Bis Ende 2022 haben von insgesamt 40 Millionen Ukrainern acht Millionen ihre Heimat verlassen. Etwa vier Millionen davon gingen ins Ausland. Die meisten, ca. 1,5 Mio. flüchteten nach Polen, eine weitere Million nach Deutschland. Der Rest ist in der Welt verstreut. Diese Fluchtbewegung ist die weltweit größte seit dem Zweiten Weltkrieg.

Quelle: Ausländerzentralregister
Ich bin kein Psychologe. Aber ich habe mit hunderten von Flüchtlingen gesprochen. Die Erkenntnis: Wir unterschätzen den Schock, den der Kriegsbeginn in den frühen Morgenstunden des 24. Februar 2022 in der Ukraine ausgelöst hat.
Nur wer genau hinschaute, sah den Krieg kommen. In meinem Tagebuch steht am Samstag, den 12. Februar, der Eintrag: Die Krise spitzt sich zu. Ich dränge meine ukrainische Familie dazu, Charkiw zu verlassen.
Die Nachrichten zeigen in diesen Tagen westliche Regierungschefs, die nach Moskau reisen. Sie wollen Putin vom Krieg abzuhalten. Der deutsche Kanzler Scholz ist am Mittwoch, den 16. Februar in Moskau.

Quelle: Sputnik (das Foto ist manipuliert worden, um die Länge des Tisches zu reduzieren)
Niemand will es glauben
Samstagvormittag, es ist der 19. Februar, noch fünf Tage bis Kriegsbeginn. Ich suche nach Flügen von Charkiw nach Berlin, wo ich mich aufhalte. Am Samstagabend um 19 Uhr gibt es einen Direktflug nach Berlin. Ich prüfe, ob es noch freie Plätze gibt. Es sind viele. Ein Ticket kostet weniger als 100 Euro. Keiner meiner Verwandten geht ans Telefon. Ich schicke Textnachrichten an den Schwiegervater und an die Schwägerin. Mit dieser kann ich sogar sprechen. Sie lehnt eine Ausreise ab. Auch mein Rat, wenigstens mit dem vierjährigen Sohn für ein paar Tage zum Urlaub nach Deutschland zu kommen, findet kein Gehör.
In den ersten Tagen und Wochen des Krieges sieht es nicht so aus, als würde sich die ukrainische Armee verteidigen können. Die Angreifer kommen aus drei Richtungen: aus dem Norden in Richtung Kyiv, aus dem Osten auf Charkiw und aus dem Süden auf Cherson und Odessa zu.
Quelle: The New York Times
Man kann sich an den Krieg gewöhnen
Heute haben sich die Menschen in der Ukraine an den Krieg gewöhnt. Das können wir uns kaum vorstellen. Die Luftalarme kommen meist nachts, wenn alle im Bett liegen. Aber nicht bei jedem Luftalarm geht man in den unterirdischen Schutzraum oder die nächste Metrostation. Am nächsten Morgen muss man wieder einkaufen gehen. Supermärkte, Restaurants und Cafés haben geöffnet. Die Kinder werden in Kellern und in Bunkern unterrichtet. Das Leben geht weiter.
Das Risiko zu sterben ist für alle gestiegen. Aber man stirbt nicht jeden Tag überall. Der Vater, Bruder oder der Sohn melden von der Front. So genau will man es nicht wissen. Frauen engagieren sich in medizinischen Hilfsorganisationen wie den Hospitallers. Auch sie sterben.

Quelle: Webseite der Hospitallers (dort werden
die Nachrufe auf Mitarbeiterinnen veröffentlicht)
Die Begräbnisse von Freunden und Freundinnen häufen sich. Denken die Menschen an die Zukunft? Nein, sie denken, was sie in der nächsten Stunde, am Abend machen. Weiter geht die Planung nicht. Und jeder Tag ist ein neuer Tag, den sie leben. Warum in ein fremdes Land fliehen, dessen Sprache man nicht kennt und wo sie nicht willkommen sind?
Die Fluchtrouten
Die am häufigste genutzten Fluchtroute für Menschen aus dem Norden und Westen der Ukraine verläuft nach Polen. Dagegen führt der kürzeste Weg für Flüchtlinge aus den Regionen Charkiw, Saporischschja, Cherson und Odessa über Moldau. Wie bei dem ukrainischen Teil meiner Familie. Die Großeltern meiner Tochter lebten in Charkiw, der zweitgrößten Stadt der Ukraine, nur wenige Kilometer von der Grenze zu Russland entfernt.
Charkiw war schon zu Sowjetzeiten eine wegen der vielen Hochschulen junge und lebendige Stadt. Ich war 2000 erstmalig dort. Bis zum Ausbruch des Krieges ging es mit Charkiw ständig aufwärts: neue Parkanlagen, renovierte Theater und Museen, gute Straßen, eine pünktliche U-Bahn, ein neuer Flughafen, die Fußball-EM im renovierten Stadion, immer mehr internationale Besucher. Dazu trug vor allem der schillernde Bürgermeister Hennadi Kermes bei. Er hatte sich nach dem ersten Angriff Russlands im Jahr 2014 von einem Freund Russlands zu einem Befürworter einer vereinten Ukraine gewandelt.

Quelle: Harald Sondhof
Um vier Uhr morgens, am 24. Februar 2022, beginnt wie überall im Land der Beschuss von Charkiw mit Flugzeugen, Raketen und Artilleriegeschossen. Gebäude im gesamten Stadtgebiet und am nordöstlichen Rand in Saltivka, einer Hochhaussiedlung, werden getroffen. Es gibt auf Telegram Videos, die in der ersten Woche nach Beginn des Krieges russische Infanterie im Stadtgebiet zeigen. Sie werden wieder vertrieben. Aber die Luftangriffe gehen weiter.
Meine betagten Schwiegereltern, die im Zentrum eine Wohnung haben, gehen in den ersten Tagen in einen nahegelegenen Keller. Die Tochter mit ihrer Familie ist bei ihnen. Sie denken, dass sie im Zentrum in einer reinen Wohngegend sicher sind. Sie wollen nicht fliehen. Der vierjährige Sohn verbringt viele Stunden in der metallenen Badewanne, die als relativ sicher gilt.
Die Familie will sich noch immer nicht Richtung Westen aufmachen. Die Schwiegereltern verehren Putin und können es nicht fassen, dass ihr Held jetzt ihr Leben bedroht. Sie hoffen die schnelle Kapitulation der Ukraine. Als es in der unmittelbaren Nachbarschaft zu schweren Treffern kommt, denken sie um, Mein Schwager hat ein Auto, in das alle hineinpassen: die Schwiegereltern, die Tochter mit ihrem Mann und der kleine Junge.
Die Realität des Krieges
Tatsächlich wird ihr Wohnhaus ein paar Tage nach ihrer Abreise komplett zerstört. Auch die Wohnung meiner Schwägerin im westlichen Außenbezirk von Charkiw in Richtung Poltawa ist zerstört.
Quelle: Harald Sondhof
Auf dem Sofa rechts neben dem weißen Schrank habe ich oft mit meiner Tochter gesessen. Links von der Tür hing ein Bild meiner Tochter an der Wand. Explosionen drückten die Fenster mitsamt Rahmen in die Wohnung.
Den Flüchtlingen entgegen
In meinem Tagebuch steht unter dem 28. Februar: Die Beschießung von Charkiw mit Mehrfachraketenwerfern wird gemeldet, ohne Rücksicht auf zivile Ziele, wie in Tschetschenien und Syrien. Es ist ein Drama ohne Ende. Ich habe den verrückten Plan, meine Verwandten da herauszuholen, mit einem Wagen, mit Presse.
Am Mittwoch, den 2. März 2022, fahren ein Sigmaringer Freund und ich los, um meine Schwiegereltern und meine Schwägerin mit ihrer Familie aus dem Kriegsgebiet zu holen. Die Neidinger Sula Knubben und Urs Stiegler von Landy Point stellen dafür einen VW-Bus zur Verfügung.

Quelle: Harald Sondhof
Wir nehmen eine der beiden Hauptfluchtrouten in den ersten Tages des Kriegs, die über Moldau. Ein guter Freund, Tom Götze aus Chemnitz, hat den Grenzübergang gefunden, der von Charkiw am schnellsten mit dem Auto zu erreichen ist. Tom empfiehlt uns den Grenzübergang in Mohyliw-Podilskyi.
Der Grenzübergang
Die ukrainische Stadt Mohyliw-Podilskyi ist ein Ort mit 30.000 Einwohnern. Dort gibt es eine Brücke über den Fluss Dnister nach Moldau. Die Kleinstadt auf der moldawischen Seite heißt Otaci. Wir raten meinen Angehörigen, über Poltawa nach Westen und bei Krementschuk über den Dnepr in Richtung Süden zu fahren. Wir werden am Übergang warten.

Quelle: Harald Sondhof
Unser Weg nach Otaci führt über Österreich, Ungarn, Rumänien und Moldau. Fast 2.000 Kilometer von Neidingen entfernt in gerader östlicher Richtung. Während wir unterwegs sind, schickt Tom Götze uns laufend die besten Routenempfehlungen.
Am Samstag, den 5. März 2022, erreichen wir gegen 10 Uhr den Grenzübergang. Von der moldawischen Seite aus ist auf der anderen Seite der Brücke ein großes blaues Banner zu sehen, auf dem der Name Ukraine steht.

Quelle: Harald Sondhof
Während wir warten
Wir stehen mit unserem VW-Bus direkt neben der moldawischen Grenzstation. Dort drücken Beamte den Ankömmlingen einen Stempel in den Pass oder die Geburtsurkunde. Ich steige aus. Ich beobachte, wie die Flüchtlinge aus dem kleinen Empfangsgebäude kommen. Es sind alte Menschen und Mütter mit ihren Kindern. Sie tragen Rucksäcke, einige Koffer, fast die Hälfte hat eine Katze oder einen Hund dabei.
Alle befinden sich in einer Art Trance. Keine Freude, keine Gefühlsregung, nur eine Bestimmtheit, die keine Ablenkung zulässt. Die Kinder, auch die kleinsten, sind still.
Auf der ukrainischen Seite des Flusses ist immer wieder der Luftalarm zu hören. Niemand nimmt ihn zur Kenntnis. Ich frage mich, während ich die Flüchtlinge beobachte, die in Schüben zu Dutzenden über die Brücke laufen, wie so eine apokalyptische Realität in Europa im 21. Jahrhundert möglich ist.
Auf unserer Seite des Flusses wird die Zahl der Menschen immer größer. Zum Glück gibt es Hilfsorganisationen, die die erschöpften Ankömmlinge in Zelte geleiten. Die kleine Kirche von Otaci ist für Mütter mit kleinen Kindern reserviert. Ich schaue vom Eingang aus hinein. Es sind mindestens 100 Frauen und Kinder.

Quelle: Harald Sondhof
Dann kommen die Schwiegereltern um 14 Uhr über die Brücke. Als wir uns sehen, gibt es nur eine kurze Begrüßung. Sie haben es geschafft. Die Schwägerin ist mit ihrem Mann und dem Kind drüben geblieben. Der Mann darf die Ukraine als Wehrpflichtiger nicht verlassen.
Viele Flüchtlinge aus Charkiw in Berlin-Tegel
Wer über Polen nach Deutschland kommt, steuert meist erst Berlin an. Aber ich treffe in Berlin-Tegel auch viele Flüchtlinge aus Charkiw, die den Grenzübergang von Otaci oder anderswo in Moldau genommen haben. Nach meiner Schätzung stammt Anfang 2023 mindestens ein Viertel der ukrainischen Flüchtlinge in Berlin-Tegel aus Charkiw und Umgebung.
Im Prinzip kann jeder auf eigene Kosten dorthin reisen, wo er oder sie jemanden kennt. Aber wer keine Kontakte im Westen hat, muss sich vernünftigerweise erst einmal irgendwo anmelden, um Sozialleistungen, eine Aufenthaltserlaubnis oder eine Fahrkarte in ein anderes Bundesland zu erhalten. Das so genannte Ukraine Ankunftszentrum in Berlin-Tegel (UA-TXL) war ursprünglich nur zur Registrierung der Flüchtlinge gedacht.

Die Aufteilung der Flüchtlinge erfolgt nach dem so genannten Königsteiner Schlüssel. Der legt verbindlich fest, wie viele Flüchtlinge jedes Bundesland, jede Stadt und jede Gemeinde in Deutschland aufnehmen muss. Für Berlin sind das etwa 5 Prozent aller Flüchtlinge.
Registrierung und erkennungsdienstliche Erfassung
An den Arbeitsplätzen unten entscheidet sich das geografische Schicksal der Ankömmlinge. Sie werden gefragt, wohin sie möchten. Deswegen sind überall Deutschland-Karten auf die Tische geklebt.

Nach der Zuweisung auf ein Bundesland folgt die erkennungsdienstliche Erfassung. Diese Prozedur ist ziemlich umfassend. Neben Ausweisen und den Fingerabdrücken der beiden Hände werden Fotos im Profil und von vorne digital gespeichert.
Quelle: Harald Sondhof
Die Daten gehen in eine europäische Datenbank. Das ist sinnvoll. Nach den Erfahrungen von 2015 und 2016 mit den syrischen Flüchtlingen sollen Mehrfachregistrierungen verhindert werden, wie sie damals zu Tausenden vorkamen.
Einmal schiebe ich einen Behinderten hierhin, der seinen linken Arm nicht mehr richtig bewegen kann. Er schafft es im ersten Anlauf nicht, seine Hand auf den Scanner zu legen. Der Polizist hat sofort Verständnis, er verzichtet auf weitere Versuche. Ein bisschen Menschlichkeit ist nicht schwer.
Anfangs mussten die Neuankömmlinge, die in Berlin bleiben, nur ein paar Tage in den Terminals des alten Flughafens und den Zelten verbringen. Danach erhielten sie eine Anschlussunterkunft in der Stadt. Was im Jahr 2022 noch einigermaßen funktioniert, kommt im ersten Quartal 2023 zum Stillstand. Denn in Berlin gibt es keine freien Unterkünfte mehr. Nach dem, was ich über die Monate höre, sind fast alle Bundesländer besser in der behördlichen Unterbringung von Flüchtlingen als Berlin.
Endstation Berlin-Tegel
Wer also Pech hat, so muss man das sagen, sitzt auf unbestimmte Zeit in Berlin-Tegel fest. Nach der Registrierung in Berlin ist der Umzug in an anderes Bundesland praktisch unmöglich, jedenfalls nicht mit Zustimmung der Berliner Behörden. Das liegt an den finanziellen Zuweisungen vom Bund, die sich an der Zahl der Registrierten orientiert.
Anfang 2023 sind 3408 Ukrainer und 1333 Asylbewerber aus anderen Ländern in den alten Terminalgebäude A und C sowie damals acht Hallen-Komplexen untergebracht. Insgesamt etwa 4.800 Menschen. Das ist die Lage, als ich am 3. Januar 2023 meinen ersten Schichtdienst antrete.
Die Zahlen sind bis heute mehr oder weniger konstant geblieben. Im Dezember 2024 berichteten einige überregionale Zeitungen, dass die Unterbringung von Flüchtlingen in Berlin-Tegel 250 Euro pro Kopf und pro Tag kostet. Pro Jahr eine halbe Milliarde Euro. Dabei sind die Lebensverhältnisse für die Flüchtlinge wie für die Mitarbeiter seit der Eröffnung des Lagers nicht sehr attraktiv.

Quelle: DIE WELT
Da es den Mitarbeitern streng verboten ist, Fotos zu machen, kommen nur wenige Bilder nach draußen. In dem oben abgebildeten Raum sind zehn Personen untergebracht. Jedes Zelt hat Platz für vierhundert Menschen. Die Menschen, die in den früheren Terminals A und C untergebracht sind, haben es noch schlechter. Dort kann man nicht einmal nachts das Licht ausschalten.
Die Lebensbedingungen
Es gibt Menschen, die über Monate oder sogar mehr als ein Jahr in diesen Doppelstockbetten leben. Man kann sich vorstellen, wie so ein „Kabine“ mit zehn Menschen in Wirklichkeit aussieht. Wäsche, Handtücher, persönliche Gegenstände liegen oder hängen überall. Auf dem Boden stehen Plastiktüten, voll mit allem, außer Lebensmitteln. Alles Essbare ist in den Schlafräumen strengstens verboten. Ungeziefer soll keine Chance haben.
In den Zelten herrscht ständiger Lärm. Es sind nicht nur die vielen Kinder, die hier herumlaufen, sondern auch das laute Brummen der Heizungsrohre. Wir können den Flüchtlingen nur Ohrstöpsel anbieten. Riesige Heizlüfter blasen Tag und Nacht heiße trockene Luft in die Zelte. Nach einigen Stunden fühlt man sich wie in einer Plastiktüte.
Das Essen für die Flüchtlinge wird in Gemeinschaftszelten ausgegeben. Auch für Menschen, die sich nicht viel bewegen, sind die Portionen knapp. Das fängt schon beim Frühstück an, bei dem schnell das Brot oder die Brötchen aus sind. Die Angebote für das Mittag- und das Abendessen sind offenbar auch weltanschaulich beeinflusst. Es gibt viel Vegetarisches, was für die Menschen aus der Ukraine eher kein vollwertiges Essen ist. Wir als Mitarbeiter dürfen das Essen der Flüchtlinge nicht essen. Es ist oft schlecht genug.
Am schlechtesten haben es die Kinder. Zu meiner Zeit gibt es praktisch keine Angebote für ihre Unterhaltung. Von Schulunterricht ganz zu schweigen. Die Mütter, die mit Hochbegabten oder internationalen Sportlern da sind, finden ihren Weg in die Berliner Schulen und Vereine. Aber die normalen Kinder bekommen nichts angeboten. Schon der Schulweg von UA-TXL in eine Schule in einem der nahegelegenen Bezirke ist für Kinder nicht machbar.
Aber trotzdem werden in meiner Zeit ständig neue Flüchtlinge in Tegel aufgenommen. Es sind viele alte Menschen. An einem Februarabend wird ein Buskonvoi aus Bachmut erwartet. In den Tagen zuvor war in den Medien vom bevorstehenden Fall von Bachmut die Rede. Die ukrainische Regierung hatte Evakuierungen angeordnet.
Als die Busse nachts in Tegel ankommen, treffe ich auf vollkommen desorientierte Menschen. Sie haben keine Smartphones, keine E-Mail-Konten. Der Betreuungsbedarf ist groß. Viele sind krank oder behindert. Ich kann mir nicht vorstellen, wie sie hier Fuß fassen können. Sie sagen mir, dass sie wieder nach Hause wollen.
Arbeiten in Berlin-Tegel
In das Lager kann man nur mit einem speziellen Bus der BVG (Berliner Verkehrsgesellschaft) fahren. Tegel galt als „stadtnaher“ Flughafen. Wenn man allerdings mit dem Fahrrad, wie ich als dort Arbeitender, nach Tegel fahren will, ist Ausdauer gefragt. Die nächste S-Bahn-Station Jungfernheide ist fast vier Kilometer entfernt.
Es ist nicht erlaubt, zu Fuß über das Rollfeld und zu dem Lager zu laufen. Von der Einfahrt auf das Gelände bis zu den Zelten ist es nochmal mehr als einen Kilometer weit.

Quelle: Harald Sondhof
Wegen meiner russischen Sprachkenntnisse bin ich meist an den Info-Points eingesetzt. Hier werden Fragen aller Art beantwortet, Arzttermine gebucht und Tipps für Abstecher in die Stadt erfragt. Viele Fragen gibt es zu den Formularen der verschiedenen deutschen Ämter: LEA, Jobcenter, Bürgeramt, BVG usw.
Quelle: Harald Sondhof
Über die drei Monate habe ich Kontakt mit etwa 1.000 Menschen im Lager. Das Deutsche Rote Kreuz leitet UA-TXL. Die Betreuung einzelner Zelte, der Betrieb der zentralen Dienste wie der Medizinische Dienst, die Materialausgabe und die Betreuungsangebote ist an verschiedene Hilfsorganisationen vergeben.
Zu den Auftragnehmern gehören die Malteser, die Johanniter, der Arbeiter-Samariter-Bund und verschiedene Untergliederungen des DRK. Dann gibt es noch einen Caterer, der das Essen liefert und die Security.
Ein Großteil meiner Kollegen und Kolleginnen ist in der Betreuung der Flüchtlinge in den Schlafbereichen und den Tageszelten im Einsatz. Dort gibt es Stationen, die ebenfalls rund um die Uhr besetzt sind. Zu den Aufgaben gehören die tägliche Anwesenheitskontrolle, die Begleitung zu Arztterminen und die Ausgabe von Formularen.
Nur die Beantragung einer Aufenthaltserlaubnis durch die LEA erfolgt digital. Ansonsten gibt es jede Menge Papier für jeden. Manchmal fällt auch mir die Übersetzung des Behördendeutsch schwer.
Mitarbeiter aus vielen Ländern
In Tegel lerne ich Kollegen mit mindestens zwei Dutzend Nationalitäten kennen. Viele sind jung. Sie studieren und haben den Job angenommen, um für ihren Lebenslauf eine interessante Erfahrung aufweisen zu können. Nur wenige sprechen Russisch oder Ukrainisch.
Wir versuchen, dem Ort etwas Menschlichkeit zu geben. Da ist die spanische Jura-Doktorandin aus Madrid, der Informatik-Student aus dem Senegal, die Grundschullehrerin aus Moldau. Eine russische Studentin ist von Anfang an dabei. Sie weiß alles über Flüchtlingsangelegenheiten und ist echte Wissensdatenbank. Sie gehört zu denen, die sich wirklich um die ukrainischen Flüchtlinge kümmern.
Das kann man leider nicht von allen sagen. Da sind junge russische Männer in Tegel, die nur Verachtung für die Ukrainer haben und das auch zeigen. Das scheint niemanden zu interessieren. Obwohl sie trotz ihrer Sprachkenntnisse nichts tun.
Die Arbeit ist nicht schlecht bezahlt. Inklusive der Zuschläge für den Schichtdienst verdient auch ein 80 Prozent-Teilzeiter mindesten 1.400 Euro netto im Monat. Eine Qualifikation ist nicht erforderlich. Auch keine Sprachkenntnisse.
Führungsprobleme
Der Lagerleiter ist ein hohes Tier vom DRK. Er hat eine natürliche Autorität und darf nur bei wirklichen Problemen eingeschaltet werden. Keine Fehlbesetzung. Ich sehe ihn einmal, als es um ein Zutrittsverbot für einen Trinker gibt. Der Mann ist geständig, aber ein Wiederholungstäter. Er wird zukünftig auf einer Berliner Straße sitzen. Innerhalb des Lagers gibt es keine Lösung für ihn. Er hat Frauen und Kinder belästigt.
Unterhalb der Top-Ebene sind viele Führungspositionen jedoch mit Personen besetzt, die vorher nie Führungsverantwortung hatten. Ein Schichtleiter hat zwischen zwanzig und dreißig Untergebene, mit sehr verschiedenen Hintergründen. Wie überall gibt es solche und solche. Aber es fällt auf, dass auf der mittleren Führungsebene die, die für die Ukrainer keine Sympathie empfinden, in der Mehrheit sind.
Es gibt unsinnige Vorgaben. So heißt es immer wieder von der Schichtleitung, wir dürften den Flüchtlingen nicht beim Ausfüllen von Behördenformularen helfen. Angeblich Haftungsprobleme. Das enttäuscht mich. Ich hatte gedacht, dass Erfahrung mit der deutschen Verwaltung und Sprachkenntnisse sinnvoll Verwendung finden.
Auch sind persönliche Gespräche mit den Lagerinsassen, so muss man sie nennen, offiziell verboten. Es ist auch verboten, zusammen mit den Flüchtlingen zum Essen zu gehen. Man darf mit ihnen nur an den Info Points reden. Wer sich irgendwo mit einem Ukrainer hinsetzt, wird umgehend zurückbeordert.
Als ich einmal ein Telefonat einer alten Frau mit ihrer Tochter organisiere, die in Österreich in einem Lager ist, werde ich von der türkischen Schichtleiterin verwarnt: Aus Datenschutzgründen dürfe ich so etwas nicht machen. Als ich in einem anderen Fall einer Mutter helfe, für ihre gut deutsch sprechende Tochter eine Schule in Berlin zu finden, achte ich darauf, dass wir unbeobachtet bleiben.
Absurd ist auch die Besetzung von Stationen, die irgendwo versteckt sind und keinerlei Ausstattung wie etwa einen PC haben. Ich stelle fest, dass die Schichtleitung unliebsame Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen dort regelmäßig acht Stunden sinnlos herumstehen läßt. Eine der „Bestraften“ ist eine Mitarbeiterin, die sich über die Arbeitsbedingungen beschwert hat. Sie braucht das Geld und sitzt die Zeit dort ab.
Berlin-Tegel ist ein harter Ort zum Leben und Arbeiten. Er wird durch gering qualifizierte und wenig souveräne Führungskräfte noch härter.
Ukrainische Einzelschicksale
Ich lerne einen etwa 40-jährigen Mann kennen, der keine Hände und unterhalb der Knie keine Beine mehr hat. Er kann nur im Bett liegen. Er klagt nicht. Er verbreitet gute Laune. Seine Familie ist mit ihm. Ein freundlicher Mann, der keine Probleme macht. Und höflich fragt, ob jemand mit ihm auf die Toilette gehen könne.
Oder einen Mann von 50 Jahren, der im Rollstuhl sitzt. Er war einmal Amateurboxer. Er kommt aus der Gegend von Saporischschja, wo ein Atomkraftwerk steht. Die Russen halten es besetzt. Er sagte mir, dass er als Kind in der Nähe von Tschernobyl gelebt habe. Er sei damals mit seiner Schulklasse evakuiert worden. Seitdem habe er große Angst vor Verstrahlung. Seine Frau sei vor vier Jahren gestorben.
Ein paar Wochen später sehe ich ihn mit seinem Rollstuhl in einem der Zelte im Gespräch mit einem jungen ukrainischen Amateurboxer. Den ich am Info Point kennengelernt hatte. Er hat einige Jugend- und Juniorentitel errungen. Er will unbedingt weiter boxen. Er liebt Deutschland. Vielleicht ist er ein zukünftiger Olympiasieger.
Da gibt es den Transsexuellen, der auch so aussieht. Er führt täglich einen kleinen Hund mit viel Fell und einer roten Schleife herum. Er befürchtet, von den Russen getötet zu werden. Den Koch aus Simferopol von der Krim, der erst nach Charkiw geflüchtet ist, und dann weiter in den Westen. Oder den Familienvater mit einem kleinen Basketball-begeisterten Jungen von sieben Jahren, den ich in die Mercedes-Benz-Arena zu einem Spiel von Alba Berlin einlade. Alba stiftet Freikarten für alle Ukrainer, als ich danach frage. Ein Kinobetreiber in Mitte lädt die Menschen aus Tegel ein. Es wird eine sehr schöne Veranstaltung mit vielen Kindern und emotionalen Gesängen.
Quelle: Harald Sondhof
Solche Veranstaltung sind leider selten, jedenfalls in der Zeit meiner Tätigkeit in Tegel.
Was bleibt
Bei allen berechtigen Klagen über die Situation der Kriegsflüchtlinge, so denke ich, muss man die Größe der Herausforderung für das Land Berlin anerkennen. Berlin ist eine der attraktivsten Städte der Welt. Plötzlich mit Zehntausenden von Flüchtlingen konfrontiert zu werden, ist nicht über Nacht zu bewältigen. Ich mache daher dem Senat von Berlin keinen Vorwurf.
Denn der eigentliche Verursacher der schlimmen Lage sitzt in einem Palast in Moskau: Vladimir Putin. Ohne ihn wäre Berlin-Tegel (fast) leer.
Wenn Tausende Menschen auf engstem Raum zusammengepfercht sind, muss es klare Regeln geben. Das ist verständlich. Die Gefahr von Seuchen und von Gewalt ist groß. Leider ist in solchen Lagern, und davon gibt es in der Welt viel zu viele, die Menschlichkeit ein knappes Gut. Die schönen Momente werden von Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen geschaffen, die nicht wegen des Geldes da sind.

Und das sind dann doch einige. Ich danke den Kollegen und Kolleginnen, mit denen ich in UA-TXL arbeiten durfte: Virinea, die immer freundlich ist. Olga, die in ihrer ruhigen Art zeigte, wie man schwierige Situationen meistert. Diana, die das Berghain gut kennt, und gute Laune verbreitet. Denys aus Chernihiv, der seine Heimat vermisst. Klaus, der nur die Nachtschichten machte. Mussa, der mir nachts von seiner afrikanischen Heimat erzählte. Und viele mehr. Ich werde sie nicht vergessen.
(Alle Namen sind geändert.)
Danke für die Schilderung aus erster Hand.