Warum Frankreich ein Problem hat – und Deutschland das verstehen sollte

BeuronBerlin hat Bruno Moncorgé als Korrespondenten gewinnen können. Bruno ist in Paris geboren und lebt dort. Zu seinen Interessen gehören Sprachen (er spricht fließend Englisch, Deutsch und Mandarin) und die Politik. Bruno ist überzeugter Europäer. Beruflich ist er im IT-Sektor tätig.

Am 8. September 2025 gab es in Frankreich ein politisches Erdbeben. In Deutschland wurde die Bedeutung kaum wahrgenommen.

Premierminister François Bayrou verlor das Vertrauensvotum in der Nationalversammlung mit 364 gegen 194 Stimmen. Er ist ein weiterer Regierungschef, der in der Geschichte der Fünften Republik auf diese Weise gestürzt wurde. Warum ist das für Deutschland von Bedeutung?

Weil Europa ohne Frankreich nicht funktionieren kann.

Europa braucht Frankreich

Die Regierungskrise in Frankreich macht eine Instabilität sichtbar, die im institutionellen Rahmen verstanden werden muss. Die französische Verfassung ist kein klassisches parlamentarisches System.

Sie verleiht dem Präsidenten eine zentrale Rolle. Das Überleben eines Premierministers setzt eine Mehrheit von Abgeordneten in der Nationalversammlung voraus, die ihn unterstützen – sei es, wie bis 2022 üblich, die Mehrheit der Präsidentenpartei, oder eine Mehrheitskonstellation ad hoc.

Seit den Wahlen im vergangenen Jahr fehlt beides, was die Verabschiedung von Reformen erschwert.

Präsident Macron wird voraussichtlich bis 2027 im Amt bleiben. Sein Vertrauensverhältnis zum neuen Bundeskanzler Merz ist ein Vorteil für Europa. Doch was danach kommt, ist ungewiss. Neu ist das nicht: Die Fünfte Republik hat bereits mehrere Phasen von Kohabitationen oder Minderheitsregierungen durchlebt, ohne dass Frankreich seine europäische Rolle aufgegeben hätte. Ungewissheit gehört zur französischen Politik – gekennzeichnet von Phasen der Blockade. 

Aber die Krise des französischen System ist eine Bedrohung für Europa.

Deutschland vs. Frankreich

In Deutschland entscheidet die Mehrheit im Bundestag über den Bundeskanzler. Der deutsche Präsident hat im Vergleich mit seinem französischen Pendent nur eine zeremonielle Funktion. Da der französische Präsident „über den Parteien steht“, kann der von ihm ernannte Ministerpräsident bei fehlenden Mehrheiten im Parlament nur scheitern.

Das französische Parlament/Quelle: https://www.elysee.fr/

Der Parlamentarismus ist dadurch strukturell geschwächt: Statt Kompromisse auszuhandeln, bleibt für die politischen Gegner nur die Blockade oder der Sturz. Tatsächlich strebt die Mehrheit der Parlamentarier den Rücktritt von Macron an. Die Macht, dies durchzusetzen, haben sie jedoch nicht.

Historische Wurzeln

Frankreichs sogenannte Vierte Republik (1946–1958) litt wegen ständig wechselnder Mehrheiten im Parlament unter großer Instabilität. In zwölf Jahren gab es mehr als zwanzig Regierungen. Als Charles de Gaulle 1958 zur Präsidentschaftswahl antrat, versprach er Stabilität und gewann. In der Folge etablierte er ein System, in dem das Parlament wichtige Befugnisse verlor. Das Amt des Präsidenten stärkte er. Seit 1962 wird der Präsident direkt gewählt, was ihm zusätzlich Legitimität verschafft.

Charles de Gaulle/Quelle: biggerthanpluto/Pixabay

Seither steht das Parlament im Schatten des Élysée-Palastes, dem Regierungssitz des französischen Präsidenten.

Das französische Mehrheitswahlrecht

Frankreich wählt seine Parlamentsabgeordneten im Mehrheitswahlrecht in zwei Runden. Wer im ersten Wahlgang über 50 % erreicht, ist gewählt. Sonst folgt eine Stichwahl zwischen den Bestplatzierten.

In der Regel garantiert dieses Verfahren klare Mehrheiten. Voraussetzung ist allerdings, dass ein politisches Lager dominiert. Die Nachteile eines Mehrheitswahlrechts sind jedoch groß. Millionen Stimmen bleiben ohne Vertretung, Minderheiten sind strukturell unterrepräsentiert. Parteien wie der rechtsnationale Rassemblement National (RN) oder die linksradikale La France Insoumise (LFI) wurden trotz starker Wahlergebnisse jahrzehntelang in der Nationalversammlung ausgeschlossen oder unterrepräsentiert. Das schafft Ärger.

Ein weiteres Problem: Das Verfahren zwingt die Parteien, Allianzen bereits vor der Wahl zu schließen, wenn sie in einem Wahlbezirk einen bestimmten Kandidaten durchbringen wollen. Wie die Journalistin Anne Chemin in Le Monde (9. September 2025) analysiert, verwandeln sich diese Vorab-Koalitionen nach der Wahl in einen politischen Zwangsrahmen. Wer später mit einem anderen Partner koalieren möchte, gilt als Verräter. Damit ist das Parlament seiner zentralen Aufgabe beraubt – nämlich Kompromisse nach dem Votum auszuhandeln.

Unglückliche Marianne/Quelle: Pixabay

Abgeordnete folgen fast immer der Parteilinie, weil sie bei einer abweichenden Position befürchten müssen, in der nächsten Wahlperiode von der Parteiführung nicht mehr aufgestellt zu werden. Entsprechend unüblich sind Verhandlungen mit dem politischen Gegner. Das Misstrauensvotum gegen Bayrou zeigte die Schwäche des französischen Parlamentarismus: Sobald keine absolute Mehrheit vorhanden ist, bricht das System schnell zusammen – weil es keine institutionellen Mechanismen gibt, um flexible Mehrheiten jenseits fester Lager zu organisieren.

Hinzu kommt ein zusätzlicher Faktor, der das Problem verschärft: Präsident Macron hat wiederholt Premierminister aus kleinen Parteien ernannt (z. B. Barnier, später Bayrou), und sie mit der Aufgabe betraut, eine parlamentarische Mehrheit zu bilden. Statt eine breite, vorabverhandelte Koalition zu fördern, setzt der Präsident so darauf, dass sich ein Premier „frei“ Mehrheiten nach der Wahl zusammenstellt.

In einer fragmentierten politischen Landschaft ohne Koalitionskultur ist das ein besonders riskantes Spiel – und es zeigt deutlich, wie der Präsident zu sehr das Schicksal der Regierung kontrolliert, ohne dass das Parlament wirksame Wege hat, Mehrheiten stabil zu organisieren.

Darum ist Frankreich so wütend

Aus deutscher Sicht hat Frankreich alles: Ein wunderschönes Land, eine charmante Sprache, den besten Wein. Aber viele Franzosen und Französinnen sind wütend. Es ist das politische System, das der Wählerschaft ein Gefühl der Ohnmacht vermittelt. Millionen fühlen sich nicht vertreten. Wer im Parlament keine Stimme hat, geht auf die Straße. Der Prostest der „Gelbwesten“ ist deshalb so groß geworden.

Der gefühlte Mangel an politischer Partizipation ist der Nährboden für Populisten. Der rechte RN und die linke LFI nähren ihre Stärke aus dem Eindruck, dass das „System“ manipuliert sei. Der Politikwissenschaftler Loïc Blondiaux weist darauf hin, dass in Frankreich Kompromiss kulturell oft als Schwäche gilt – im Gegensatz zu Deutschland, wo er die Basis des parlamentarischen Lebens ist. Was auch seine Probleme mit sich bringt.

Ohne Kompromisse/Quelle: MoteOo/Pixabay

Immer wieder wird über die Einführung der Proportionalwahl diskutiert. Emmanuel Macron versprach sie 2017, setzte sie aber nicht um. Die Vorteile sind klar: Jede Partei könnte sich den Wählern unter ihren eigenen Farben präsentieren; erst danach würden Koalitionen gebildet – offen, transparent und stabil für die gesamte Legislaturperiode. Doch die etablierten Parteien scheuen den Schritt: Sie fürchten den Machtverlust. Paradoxerweise erlebt Frankreich nun Instabilität genau deshalb, weil in einer fragmentierten Gesellschaft das Mehrheitswahlrecht nicht mehr funktioniert.

Was Deutschland wissen muss

Frankreichs Parlament ist traditionell kein Ort der Verhandlung, sondern der Mehrheitsentscheidung. Eine Koalitionskultur wie in Deutschland, die ihre eigenen Schwächen hat, gibt es nicht. Das Misstrauensvotum vom 8. September 2025 könnte ein Wendepunkt sein: Es zeigt, dass ein System, das Kompromisse verhindert, am Ende die Demokratie selbst schwächt.

Für deutsche Leser ist es eine Lektion: Stabilität entsteht nicht durch Machtkonzentration, sondern durch die Fähigkeit, die Minderheiten am politischen Leben zu beteiligen, mit ihnen zu verhandeln und Verantwortung zu teilen.

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Burkhard Lege

Danke. Jetzt verstehe ich das Problem der französischen Politik etwas besser.

Uwe

Sehr interessant…danke

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