Moskauer Sommer-Festival 2025 Foto: O. Sosnitzki

Europäer in Moskau: Beweis der „Normalität“ und Geiseln eines totalitären Regimes

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Wer heute privat aus Russland heraus für ein westliches Pressemedium berichtet, kann ins Gefängnis kommen. Die Position „Unser Mann in Moskau“ bleibt daher unbesetzt. Um die Lage in Moskau zu beschreiben, hat BeuronBerlin in verschlüsselten Chats Fragen an dort lebende Personen gestellt. Ihre Antworten erscheinen hier zusammengefasst und editiert unter der Autorenschaft von „Anonym“.

Wie geht es westlichen Ausländern, die im vierten Jahr des Angriffskrieges gegen die Ukraine in Moskau leben? BeuronBerlin hat dazu Europäer befragt. Ihr Berichterstatter kennt sie und Moskau seit langem.

Die Gespräche fanden über WhatsApp statt. In Russland mussten die Gesprächspartner ein VPN verwenden. Der direkte Aufruf von WhatsApp ist in Russland gesperrt.

Namen und Nationalitäten bleiben auf eigenen Wunsch ungenannt.

Lebenswertes Moskau

Wer auf die erste Frage: “Wie geht es Dir?“ eine Antwort des Unbehagens oder der Trauer erwartet, wird überrascht. Es geht ihnen gut, sehr gut sogar.

Dafür gibt es familiäre Gründe, z.B. weil man mit einem russischen Partner verheiratet ist. Oder weil man in Russland weiter seiner Arbeit nachgeht. Eine Reihe großer europäischer und US-amerikanischer Großunternehmen ist unverändert im Land operativ.

Die 10-Millionen Metropole Moskau hatte für Ausländer immer einen besonderen Reiz. In den letzten fünfzehn Jahren hat der russische Staat zudem viel Geld in die Stadt investiert.

Der aktuelle Bürgermeister Sobjanin, ein Gefolgsmann des Kreml, ist ein Technokrat, der sein Handwerk versteht.

Wowtschansk in der Region Charkiw/Foto: Kostiantyn und Wlada Liberow

Die großen Flughäfen sind bequem auf dem Schienenweg zu erreichen. Schnelles Internet gibt es überall, auch in der Metro weit unter der Erde. Die Parks, die Museen, die Theater und überhaupt der öffentliche Raum sind in einem hervorragenden Zustand.

Die Stadt hat das Bolschoi-Theater, die Tretiakov-Galerie, den Tschaikovski-Saal und vieles mehr zu bieten. Das kulturelle Angebot ist riesengroß. Dazu ein lebendiges Nachtleben.

Big Brother is Watching You

Ein Tourist muss, anders als vor zwanzig Jahren, bei einem späten Spaziergang nichts befürchten. Moskau ist zu einer der sichersten Mega-Cities der Welt geworden.

Das liegt nicht zuletzt an den in den letzten Jahren überall aufgehängten Videokameras. Meine Gesprächspartner heben die Vorteile hervor: Wer etwas irgendwo liegen lässt, erhält es in kurzer Zeit zurück.

Denn die Aufnahmen arbeiten mit fortschrittlicher Gesichtserkennung. Jeder ist jederzeit identifizierbar, mit Namen und Anschrift.

Krieg? Welcher Krieg?

Meine Bekannten bestätigen, dass selbst in ihren Kreisen die Verwendung des Wortes „Krieg“ vermieden wird. Wenn einmal die Rede darauf kommt, ist es zufällig, etwa weil jemanden einen Gefallenen oder Verletzten kennt.

Dann spricht die Runde von dem Krieg als „SVO“ (russisches Kürzel für „Militärische Spezialoperation“)

Kirche in dem Dorf Oleksandro-Schultyne/Foto: Roman Pilipej für AFP Photo

Ansonsten kommt der Krieg im Moskauer Alltag nicht vor. Weder bei privaten Treffen noch im Arbeitsumfeld. Nur die überall zu sehenden Rekrutierungsplakate lassen erahnen, dass die jungen Männer auf den Bildern irgendwo dringend gebraucht werden.

Auf Fragen zur Repression im täglichen Leben geht keiner ein. Ja, man müsse aufpassen. Und natürlich sei die Lage in den Grenzregionen eine andere als in Moskau.

Der Krieg habe aber auch zu mehr gesellschaftlichem Zusammenhalt geführt, zu einem Gefühl des Patriotismus, des Nationalstolzes.

Russischer Retro-Pop sei bei der Jugend jetzt sehr beliebt geworden. Im Radio und in den Diskotheken laufe er, für westliche Ohren sei er amüsant anzuhören.

Alles wie immer

Von sich aus reden sie darüber, dass man von offizieller russischer Seite wohl gelitten sei. Ihre russischen Bekannten werten die andauernde Anwesenheit westlicher Bürger als positives Zeichen, dass sich nicht viel geändert hat. Obwohl sehr viele das Land verlassen haben. Sie fehlen offenbar niemandem.

Für Expats, wie die ausländischen Beschäftigten weltweit heißen, sind Behördengänge vergleichbar einfach. Visafragen würden schnell beantwortet. Ein- und Ausreise sind problemlos möglich.

Als wichtiges Drehkreuz habe sich die Türkei etabliert. Dorthin können auch Russen ohne ein Visum fliegen. Ebenso nach Dubai. Dahin zöge es aber eher die wohlhabenden Russen.

Raketeneinschlag in Charkiw/Foto: Witalij Hnidyi / Reuters

Überhaupt: „Hier funktionieren Dinge, die bei uns nicht funktionieren.“

Verlorene Freunde?

Ihr Berichterstatter telefonierte insgesamt fast vier Stunden mit seinen Kontakten, die er seit vielen Jahren kennt. Es waren freundliche Gespräche. Es ging um gemeinsame russische Freunde, zusammen besuchte Orte und die Faszination, die Moskau und Russland auf westliche Beobachter ausüben.

Nach Tagen der Reflektion trübt sich der Eindruck. Wie ist es möglich, über Gott und die Welt zu plaudern, und alle vermeiden jeden Hinweis auf die aktuelle Situation?

Keiner der Kontakte hat den Krieg verurteilt. Keiner hat sich über das Leid der Ukraine geäußert, oder über die vielen Getöteten.

Torezk in der Region Donezk/Foto: Kostiantyn and Wlada Liberow

Die USA verloren in Vietnam, wo sie nichts zu suchen hatten, insgesamt knapp 200.000 Mann, die Verletzten eingerechnet. Russland hat bei dem Einmarsch in die friedliche Ukraine nach gut drei Jahren bereits mehr als 900.000 Tote und Verletzte zu verzeichnen. Das ist kein Thema.

Schwer von außen zu verstehen

Den Gesprächspartnern war nicht bewußt, dass viele Menschen außerhalb Russlands sie nicht verstehen können. Wie kann man, ohne sich zu verbiegen, zufrieden in einem solchen Staat leben? Ohne dazu gezwungen zu sein?

Hierzulande gibt es die Debatte, ob Russland totalitär sei. Tatsächlich findet das Attribut nicht bei allen Zustimmung.

Aber ein Staat, das bereits Kindern die Idee der „Russki Mir“ in die Köpfe bringen will und alle Sphären der Gesellschaft gewaltsam dominiert, darf man totalitär nennen.

Ihr Berichterstatter ist ein wenig erschüttert . Mit seinen im Westen sozialisierten Gesprächspartnern ist etwas passiert. Sie haben etwas verloren.

Das Stockholm-Syndrom?

Sie hatten sich nicht verstellt. Für sie waren es gewöhnliche Gespräche, wie sie alte Bekannte immer mal wieder führen, wenn man sich in verschiedenen Ländern und Zeitzonen befindet. Aber sie erscheinen wie Opfer einer Gehirnwäsche. 

Kirche im Dorf Nowoekonomitschne/Foto: Serhij Korowajnyj

Vielleicht sollte die Wirksamkeit der täglichen Kontrolle der in Russland Lebenden nicht unterschätzt werden.

Psychologen reden vom Stockholm-Syndrom, wenn Opfer einer Geiselnahme positive emotionale Bindungen zu ihren Kontrolleuren entwickeln. Dieses Verhalten gilt als unbewusster Überlebensmechanismus, der in einer bedrohlichen Situation entsteht.

Möglicherweise würde man selbst sich auch so anpassen.

Zum Abschluss fragte BeuronBerlin einmal direkt: „Wenn Du nicht in Moskau, sondern in Washington leben würdest, hätte so ein Gespräch nicht andere Inhalte?“

Die Antwort ist es wert, im Wortlaut wiedergegeben zu werden: „Wahrscheinschlich hätte ich Dir über meine Teilnahme an der No-Kings-Demo gegen Trump erzählt.“

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1 Kommentar
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Burkhard Lege

Danke,
leider ist vieles nicht überraschend, aber das Maß an Normalität in Moskau dann doch erschütternd. Die Rechnung von Putin, hauptsächlich Soldaten in den entfernten, ärmeren Regionen Russlands zu rekrutieren, geht auf.

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