Dame mit Sektglas

Alraune in Beuron – Annäherung an eine eindrucksvolle Künstlerin

Wer weiß, was Kunst ist? Jeder von uns hat eine Ahnung. Und jeder neugierige Mensch sollte sich die Ausstellung in „Alraunes Privatmuseum“ in Beuron anschauen. Der Besuch im Beuroner Gregoriushaus ist ein ungewöhnliches Kunsterlebnis.

Wer das neue „Privatmuseum“ im Beuroner Gregoriushaus, gegenüber dem Bahnhof gelegen, betritt, wird vom Flair eines alten Hotels eingefangen. Das Eintauchen in die Kunstwelt ist Teil der Erfahrung: Links neben dem Eingang gibt es einen Raum mit verschiedenen Kopfbedeckungen, die man aufsetzen kann. Und mit der man eine Rolle übernimmt.

Das Gregoriushaus war ein „lost space“ wie aus dem Bilderbuch. Wie so viele Gebäude in Beuron, die seit Jahrzehnten dem Verfall überlassen werden.

Jetzt ist das Gregoriushaus ein magischer Ort. Der Beuroner Benediktinerorden hatte es um 1900 für Pilger erbaut. Im Keller gibt es eine große Wäscherei, unverändert bis heute. Das Haus hat viel gesehen. Aber es ist verschwiegen.

Bis heute lebt in Hausen im Tal, einem Nachbarort, ein ehemaliges Zimmermädchen, das im Gregoriushaus gearbeitet hat. Die heute alte Dame kann Geschichten erzählen, die niemand kennt. Nur fragt sie selten jemand. Der Zauberberg lässt grüßen, aber der hatte Thomas Mann.

Dass Alraune, im schwäbischen Tübingen geboren und eine der interessantesten Künstlerinnen unserer Zeit, in Beuron ein Museum eröffnet hat, gehört zu den Geschichten, die sich kein Autor ausdenken kann. Ein großer Glücksfall für die bäuerlich geprägte Gemeinde Beuron.

Über die Künstlerin

Die Vita von Alraune, mit bürgerlichem Namen Stefanie Siebert, ist im Internet zu finden. Geboren und Schulzeit in Tübingen. Das Café Völter im Stadtzentrum, in dem die junge Alraune beginnt, Menschen zu beobachten. Das Café ist ein schwäbischer Ort der Begegnung, wie es sie in Wien und Berlin gab. Heute eine gesichtslose Boutique für Unnötiges. Dann Ausbildung als Textildesignerin in Reutlingen.

Nach einer Zeit als Modedesignerin in Stuttgart kreiert Alraune für große Kunden mit ihren Figuren Blickfänge in großen Schaufenstern, für das KaDeWe in Berlin, für die Les Halles in Paris, für das Jelmoli in Zürich und viele andere.

Ein Nachbar des Berichterstatters sah auf einer Geschäftsreise in die Schweiz zufällig die Installation im Jelmoli in Zürich. Nach seiner Rückkehr fuhr er mit seiner Frau gleich nochmal dorthin. Sie ist eine vielseitig interessierte Innenarchitektin, die das unbedingt sehen sollte.

Die internationale Aufmerksamkeit für ihre kommerziellen Projekte hat Alraune die Kraft gegeben, eigene Museen in Deutschland zu konzipieren. Über die letzten Jahrzehnte ist so ein Kosmos von Figuren in unterschiedlichen Umgebungen entstanden. Es gibt immer wieder neue, aber einige sind geblieben.

Ist ihre Heimat Schwaben bei allen Reisen wichtig für sie? Sie bejaht das. Alraune bleibt Tübingerin. Ein Kind der „kleinen großen Stadt“ wie es Walter Jens einmal ausdrückte.

„Textile Artist“

Alraune arrangiert und kommentiert in ihren Werken aus Textilien das menschliche Leben. In einem Hotelzimmer, dem Wartezimmer eines Tierarztes, in einer Metzgerei. Aber anders es zunächst den Anschein hat. Alraunes Werke überraschen auch beim zweiten und dritten Hinsehen.

Alraune erlaubt Einblicke in die Abgründe des Menschen. Der Humor kommt dabei nicht zu kurz. Die Tübinger Wurst: Im Querschnitt wird eine Karte der Innenstadt sichtbar, wo sie ihre Jugend verbracht hat.

Foto: Harald Sondhof

Die handwerkliche Meisterschaft von Alraune, die unglaublichen Details, das Arbeiten mit unterschiedlichen Ideen, dürften weltweit einzigartig sein.  Alraune bezeichnet sich als Textilkünstlerin. Und scheint ein bisschen mit dem Begriff zu hadern. Aber das ist etwas unverständlich, denn „Textile Artists“ gehören zu den kreativsten Künstlern unserer Zeit. 

Sheila Hicks, eine bekannte US-Künstlerin der Gegenwart, kreiert u.a. Wolkenansichten aus Filzgebilden. Sie und andere Textile Artists finden sich im Metropolitan Museum of Modern Art (MOMA) in New York, dem Olymp zeitgenössischer Kunst. Alraune gehört in diese Liga. Sie zählt zu den innovativsten Persönlichkeiten der modernen Kunstszene. Wenn Alraune es wollte, wäre sie eine Attraktion der Art Basel. Aber das ist nicht wichtig für sie. Sie hat keinen Kunstagenten und will auch keinen, wie sie sagt.

Alraune und Einflüsse

Was bedeutet der Name Alraune? Es ist eine Pflanze, aber eine besondere. Wikipedia hat einen langen Artikel darüber. Alraune ist ein Begriff, der bei Goethe vorkommt, wie bei Joan Rowlings, der Schöpferin von Harry Potter.

Aber Alraune ist vor allem eine Metapher für Tiefgründiges, Geheimnisvolles und Universelles. Die magische Pflanze war schon in Mesopotamien, in Ägypten und in Rom bekannt. Welche Interpretation Stefanie Siebert ihrem Namen gibt, ist nicht bekannt. Ihr Berichterstatter hat die Chance verpasst, die Künstlerin zu fragen.

Allerdings nennt Alraune auf Nachfrage René Magritte und Salvador Dalí, die sie als Maler in ihrem Werdegang beeinflusst haben. Die beiden sind, zumindest in Teilen ihres Schaffens, Surrealisten. Sie selbst ist es wohl eher nicht. Zu nah sind ihre Werke an der menschlichen Realität.

Der Menschensohn von Magritte

Es ist spekulativ. Aber einem René Magritte zugeschriebenen Satz könnte Alraune vielleicht zustimmen. Er sagte: Alles, was wir sehen, verbirgt etwas anderes. Wir wollen immer sehen, was das, was wir sehen, verbirgt, aber es ist unmöglich.

Salvador Dalí, der als Mensch empfindsamer war, als man denkt, hat etwas Universelles. Ihr Berichterstatter sah die langen Schlangen vor einer Dalí-Ausstellung in Moskau. Die Besucher warteten stundenlang auf Einlass in das Museum. Offenbar gibt es ein Erkenntnisstreben des Homo Sapiens, welches nur die Kunst befriedigen kann. Alraune arbeitet damit.

Alraunes Ausstellung

Die lebensgroßen Figuren, die Alraune aus Stoff näht, sehen nicht aus wie Menschen aus Stoff. Sie leben. Haben eine Geschichte. Belustigen und beunruhigen. Wer Alraunes Museen in Deutschland besucht hat, wird einige Charaktere wiederfinden. Aber in anderen Umgebungen. Einige Figuren wie der Wolf im Rotkäppchen-Zimmer haben bei Alraune eine lange Vorgeschichte.

Die Details sind es. Was zunächst ein aus Kindertagen vertrautes Sujet ist, entpuppt sich bei eingehender Betrachtung als ungewöhnlich, manchmal verwirrend.

Foto: Harald Sondhof

Der Mensch sieht nur, was er kennt. Die weißen Mäuse, die den Pagen und seinen Gast begleiten, erwartet er nicht. So sieht er sie erst später. Diese Überraschungen sind reizvoll, denn sie beinhalten eine Geschichte.

Foto: Harald Sondhof

Die sorgsam zusammengestellten Kompositionen sehen aus wie gemalt. Alraune gibt dem Besucher in jedem Zimmer mit ihren sorgfältig erstellten Hinweisen eine Hilfestellung.

Foto: Harald Sondhof

Alraune hat in ihren Ausstellungen jährlich zehntausende von Besuchern angezogen. Das werden in Beuron eher mehr sein.

Worpswede, Beuron?

Was brachte Alraune nach Beuron? War es der Charme des heruntergekommenen Klosterortes, der gut zu ihrer Ausstellung passt? Nein, sagt sie, es war reiner Zufall. Ein Besucher ihres Museums in Haigerloch hatte ein Gespräch der Künstlerin mit einer Freundin mitbekommen, in dem von der Suche nach einem neuen Standort die Rede war. Der Name Beuron fiel. Alraune und ihr Mann erwarben dann das Gregoriushaus vom Kloster Beuron.

Der lokalpolitisch interessierte Berichterstatter fragt Alraune nach ihren Plänen. Wird aus Beuron durch Alraune ein Worpswede?  Bekanntlich brachte die Nichte seines Hauswirtes den Göttinger Kunststudenten Fritz Mackensen nach Worpswede, das als „Teufelsmoor“ eine besondere Anziehungskraft hatte. Den Maler, (1866-1953) ließ der Ort Zeit seines Lebens nicht mehr los. Und er ermunterte weitere Künstler wie Moderson und Rilke, sich dort niederzulassen. Bis heute ist die Worpsweder Künstlerkolonie weltbekannt.

Alraune ist jedoch keine Anhängerin des klassischen Kunstbetriebs. Sie hat auch nicht das Sendungsbewusstsein des Fritz Mackensen. Nein, Alraune wird aus Beuron kein Worpswede machen. Sie arbeitet gerne allein. Ihr Mann und ihre beiden Kinder sind ihr nahe. Bei anderen Menschen ist sie vorsichtig. Sie wirkt zerbrechlich, trotz ihres Durchsetzungsvermögens, trotz ihrer Leistungen. Alraune ist wie das geheimnisvolle Gewächs, dessen Namen sie angenommen hat.

Alraunes Wünsche

Alraune ist diskret. Sie gibt nur preis, was sie will. Diesen Eindruck nimmt ihr Berichterstatter mit nach Hause. Er weiß erst einmal nicht, wie er angemessen über die Künstlerin schreiben kann.  

Zum Abschluss des Besuchs die Frage, was sich Alaune für die Zukunft wünscht. Da singt sie ihm das NichtGeburtstagslied aus Alice im Wunderland. Ja, wirklich, sie singt.

Die Erzählung von Lewis Caroll beschreibt den Gegenentwurf einer Gesellschaft, in der alles vorbestimmt und festgelegt ist. Das Buch ist für Kinder und Erwachsene, die Kinder geblieben sind. Die sich allein ihren Weg durch das Leben bahnen. Alraune ist ein Kind geblieben und wird es bleiben.

Öffnungszeiten von „Alraunes Privatmuseum“

Donnerstag bis Sonntag

und an allen gesetzlichen Feiertagen

von 14:00 bis 17:00

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