Vor ein paar Tagen stand ich mit Lukas Kruthoff am Eingang des Tobelhauses. Wir plauderten ein bisschen und irgendwie kamen wir auf die neueste Drohung des russischen Präsidenten zu sprechen, taktische Atombomben gegen Westeuropa einzusetzen. Taktisch heißt, dass es sich um Nuklearwaffen mit einer begrenzten Reichweite handelt, die in Kriegsgebieten zum Einsatz kommen können.
Ich sagte Lukas, dass mich das dieses Szenario an die Lage in den 80er Jahren erinnere. Der Westen reagierte damals auf eine ähnliche Drohung der Sowjetunion mit dem NATO-Doppelbeschluss. Lukas kannte den Inhalt des Beschlusses nicht.
Alle, die ich fragte, hatten vielleicht von ihm gehört, nur keiner wusste, was der Beschluss konkret bedeutete. Ein alter Studienfreund konnte sich noch an Demos in Mutlangen gegen den Beschluss erinnern.
Die Angst vor einem nuklearen Krieg
Die Angst vor einem Atomkrieg ist wieder präsent, weil der russische Präsident Putin seit seinem Einmarsch in die Ukraine immerzu von Nuklearwaffen redet. Letzte Woche richtete der russische Außenminister Lawrow in der UN-Vollversammlung in New York klare Worte an die Weltöffentlichkeit: Ein Nuklearstaat, der gegen einen Nicht-Nuklearstaat Krieg führt, könne nicht verlieren. Wem das bisher nicht klar sei, dem solle es klar werden. Was er meinte: Die Zeit der Schulhofschläger, die sich nicht an Regeln und Moral halten, ist wieder da. Die Starken terrorisieren die Schwachen. Einfach, weil sie es können.
Der ukrainische Präsident Selensky, der ebenfalls in New York war, wird sich an das Budapester Abkommen von 1994 erinnert haben. In dem Abkommen, das von den Garantiemächten USA und Großbritannien mitunterzeichnet wurde, sicherte Russland der Ukraine die Anerkennung ihrer Grenzen zu. Im Gegenzug übergab die Ukraine die auf ihrem Gebiet stationierten Nuklearwaffen an Russland. Alle wissen, dass Russland sich nicht an das Abkommen gehalten hat.
Hiroshima und Nagasaki
Die USA haben mit dem Abwurf von zwei Atombomben im August 1945 in Hiroshima und Nagasaki die Büchse der Pandora geöffnet. Seitdem droht unserem Planeten die komplette Vernichtung. Es darf jedoch nicht vergessen werden, dass in Deutschland schon seit 1938 an der Atombombe gearbeitet wurde.
Zum Glück hatte man nicht die Ressourcen, ein solches Projekt zum Abschluss zu bringen. Wer die Rekonstruktion der letzten Tage von Hitler im April 1945 von Joachim C. Fest gelesen hat, verspürt heute noch Erleichterung. Hätte Hitler die Atomwaffe gehabt, hätte er das deutsche Volk damit aus Enttäuschung über die Niederlage vernichtet.
Unter Historikern ist umstritten, ob die Atombomben der USA auf Hiroshima und Nagasaki wirklich zu einer schnelleren Beendigung des Zweiten Weltkrieges beigetragen haben. Denn Japan hat im August 1945 nicht wegen der Atombomben auf zwei seiner Städte kapituliert. Zuvor waren 66 japanische Städte durch „konventionelle“ Luftangriffe zum Teil noch umfangreicher zerstört worden als Hiroshima und Nagasaki. In Tokio starben im März 1945 mehr Menschen als in Hiroshima. Ausschlaggebend für die Kapitulation war eher die von Japan am 8. August erhaltene Kriegserklärung Stalins. Einen erfolgreichen Zweifronten-Krieg gegen die USA und die Sowjetunion konnte sich der japanische Generalstab nicht vorstellen.
Der Chronist des Schreckens
Aber seitdem hat der Normalbürger eine existentielle Angst vor einem mit Atomwaffen geführten Krieg. Die Berichte des US-amerikanischen Journalist John Hersey haben dazu wesentlich beigetragen. Er machte die Folgen der nuklearen Vernichtung für jeden anschaulich. Hersey veröffentlichte seinen Artikel im New Yorker, einer der angesehensten Zeitschriften der Welt. Später wurde der Artikel als Buch publiziert. Es ist bis heute lieferbar und lesenswert.

Das Titelblatt von John Hersey´s Buch
Spieltheorie und Atomwaffen
Seit Ende der 60er Jahre gibt es Raketen, die mit einem nuklearen Sprengkörper versehen werden können. Der Schwerpunkt der USA und der Sowjetunion lag zunächst auf der Entwicklung von Trägerraketen, die den jeweiligen Gegner auch nach einem Erstschlag zerstören können. Das ist die Zeit, in praktisch unzerstörbare Atom-U-Boote und Massen von Atomsprengköpfen produziert wurden. Seit den 70er Jahren entwickelte die Sowjetunion zusätzlich landgestützte Kurz- und Mittelstreckenraketen, mit denen sie nicht die USA, wohl aber Westeuropa angreifen konnte.
Die im Westen SS20 (russisch: RSD-10) genannten Mittelstreckenraketen mit nuklearem Sprengkopf bedrohten im Kalten Krieg das Gleichgewicht der Kräfte. Auf Wikipedia ist zu lesen, dass es auch um die Erhaltung von Arbeitsplätzen für Raketenwissenschaftler in Wotkinsk ging. Fakt ist, die Entwicklung der SS20 bedeutete, dass die Sowjetunion plötzlich Westeuropa mit Nuklearwaffen bedrohen konnte, die eindeutig nicht gegen die USA gerichtet waren.
Das Kalkül der Sowjetunion war spieltheoretisch begründet: Mit der Beschränkung der Reichweite konnten Atombomben gegen Westeuropa eingesetzt werden, ohne die eigene Vernichtung zu riskieren. Nukleare Angriffe auf Westeuropa würden die USA wahrscheinlich nicht mit einem Gegenschlag beantworten, weil sie dann selbst auch vernichtet würden.
Die Reaktion des Westens
Der NATO-Doppelbeschluss war die Reaktion auf diese Strategie. Der Beschluss beinhaltete die Stationierung von „taktischen“ Pershing 2-Atomraketen für den Fall, dass die Sowjetunion nicht zu Abrüstungsverhandlungen bereit war. „Doppel“ hieß: Die Stationierung der neuen NATO-Raketen kommt nicht, solange über Abrüstung verhandelt wird. Man darf annehmen, dass viele der Teilnehmer an den Anti-Atom-Demonstrationen in den westlichen Ländern den zweiten Teil des Doppelbeschlusses nicht kannten oder nicht wahrhaben wollten.
Damals wie heute war die SPD als Kanzlerpartei skeptisch gegenüber dem Prinzip Abschreckung gegenüber Russland. Ihr Kanzler Schmidt, einer der Architekten des Doppelbeschlusses musste 1983 sein Amt aufgeben. Der Nachfolger Helmut Kohl von der CDU setzte dann gegen erhebliche Widerstände den Doppelbeschluss im Bundestag durch. Einen Tag nach der Abstimmung im Bundestag brach die Sowjetunion alle Abrüstungsgespräche ab.
Wie man heute weiß, haben der KGB und die Stasi enorme Anstrengungen unternommen, um die Friedensbewegung in ihrem Sinne zu nutzen. Trotz allem, der NATO-Doppelbeschluss leitete ab 1987 die größte Abrüstung in der Geschichte ein, nuklear wie konventionell. Dafür verantwortlich waren Mikhael Gorbatschow und, wer weiß das noch, Ronald Reagan. Gorbatschow ist im heutigen Russland so beliebt wie ein Pickel auf der Nase. Das weiß ich, weil ich lange in Moskau gelebt habe. Reagan kennt man nur als Cowboydarsteller in B-Movies.

Gorbatschow und Reagan 1987 in Washington
Aber wer Augen hat zum Lesen, kann die historischen Berichte nachlesen, und wer Ohren hat zum Hören, kann sich u.a. beim Deutschlandfunk die entsprechenden Podcasts anhören. Der Vertrag, um den es damals ging, hieß „Intermediate Range Nuclear Forces Treaty“, kurz INF-Vertrag. Viele Tausend Atombomben und ihre Trägerraketen wurden nach der Unterzeichnung verschrottet.
Bei meinen Flügen nach Russland in den 90er Jahren traf ich öfters auf westliche Abrüstungs-Inspektoren. Sie kamen aus allen möglichen Länder. Sie hatten die Aufgabe, die die Zerstörung der russischen Nuklearwaffen zu überwachen. Sie hatten alle gute Laune. Umgekehrt flogen russische Experten in den Westen.
Alles schien gut. Aber seit 2013 sahen die USA und ihre NATO-Verbündeten, dass Putins Russland durch die Stationierung von Iskander-Raketen gegen den INF-Vertrag verstieß. Deutschland wollte das wie andere westeuropäische Länder hinnehmen. Der US-Präsident Trump kündigte jedoch nach verschiedenen Ultimaten den Vertrag im Jahr 2019.
Die Geschichte wiederholt sich
Putin hatte 2018 mit der Stationierung von Iskander-Raketen in Kaliningrad begonnen. Diese Raketen können mit nuklearen Sprengköpfen bestückt werden. Sie haben eine Reichweite von 1.000 km. Das 520 entfernte Bundeskanzleramt in Berlin ist in wenigen Minuten erreichbar. Eine Abwehrmöglichkeit gibt es praktisch nicht. Im Krieg gegen die Ukraine hat Russland über 1.400 solcher mit konventionellen Sprengköpfen ausgerüsteten Raketen eingesetzt, die Mehrzahl gegen zivile Ziele.
Westeuropa verfügt bisher nicht über weitreichende Raketen. Die Bundeswehr hat die ATACMS, die eine Reichweite von 300 km haben und den Taurus, der bis zu 500 km erreicht. Eine abschreckende Wirkung auf Russland haben diese Waffen nicht. Wie in den 70er und 80er Jahren hat Russland, damals in der Inkarnation der Sowjetunion, für sich eine taktische Erstschlagsoption geschaffen, die vom „Westen“ nicht beantwortet werden kann. Eine ähnliche Waffengattung ist übrigens der Kinshal („Dolch“), die ebenfalls atomwaffenfähig ist und Westeuropa erreicht.
Wir werden diese Namen im Falle eines Krieges mit Russland so gut lernen wie es die Bürger der Ukraine getan haben.
Was sonst kann man tun?
Auf Bitten westeuropäischer NATO-Partner, inklusive Deutschland, werden die USA nach heutigem Stand ab 2026 wieder Mittelstreckenraketen in Europa stationieren. Sofern ein wiedergewählter Präsident Trump sich nicht anders entscheidet. Sollte man als Pazifist daher Trump gut finden, weil ihm Westeuropa und die NATO egal ist? Ich bin da absolut nicht sicher.

Quelle: The Economist
Dafür bin ich zu 100 Prozent davon überzeugt, dass Figuren wie Sahra Wagenknecht und Organisationen wie die AfD aus russischen Quellen finanziert werden. In meiner Zeit in Moskau hatte ich privaten Kontakt mit FSB- (früher KGB-) Angehörigen und ihren Familien. Unser Umgang war freundlich und harmlos. Aber der Apparat war immer da. Da arbeiten die Besten der Besten. Bei exzellenter Bezahlung, Urlaub im Westen und freier Wohnung im Zentrum von Moskau: Psychologen, Sprachwissenschaftler, Ingenieure, Ökonomen, und Militärs.
Winston Churchill sagte sinngemäß, Demokratie sei die schlechteste Form der Organisation von Gesellschaften. Aber alle anderen Formen seien noch schlechter. Tatsächlich muss ich in einer Demokratie hinnehmen, dass hin und wieder unfähige Pfeifen eine Wahl gewinnen. Aber ein Diktator, der einem Geheimdienst sagen kann, was er tun soll, ist schlimmer. Und demokratische Gesellschaften sind schlecht darin, militärische Bedrohungen von Nicht-Demokratien ernst zu nehmen. Aber Naivität hilft nicht, wenn Mörder unterwegs sind. Russisch kann man ja auch besser aus Liebe an der Sprache lernen.
Hallo Harald, danke für deinen informativen Beitrag, vor allem für die geschichtlichen Zusammenhänge.
Ich würde gerne etwas zum „Pazifismus“ ergänzen:
Der christliche Pazifismus bezieht sich auf Jesus. In diesem Sinne ist nur der Pazifist, der bereit ist auf Gewalt zu verzichten und dafür den EIGENEN TOD in Kauf zu nehmen. Jesus forderte von seinen Jüngern nicht, selbst den Tod zu wählen.
Menschen, die von der Ukraine fordern, sich nicht weiter zu verteidigen, oder die von Deutschland fordern, dass keine Verteidigungswaffen mehr an die Ukraine geliefert werden, sind in diesem christlichen Sinne keine Pazifisten. Sie entscheiden nämlich nicht für sich selbst, sondern für das ukrainische Volk. Dieses soll widerstandslos die Besatzung durch Russland hinnehmen und sich den Gräueltaten der Russen aussetzen – wie in Butscha.
FRIEDEN UM JEDEN PREIS IST KEIN PAZIFISMUS
Heidi