Kürzlich in Berlin auf der Straße „Unter den Linden“. Gegenüber dem mächtigen Bau der früheren sowjetischen und heute russischen Botschaft fällt der Blick auf ein in seiner Einfachheit geradezu rührendes ukrainisches Mahnmal für die Opfer des Angriffskrieges. Die Fotos zeigen eine Mischung aus menschlichem Leid und dem Willen der Ukraine, nicht aufzugeben.
Am gleichen Ort stand letztes Jahr im Februar ein von der Ukraine zerstörter russischer T72-Panzer. Es war die Aktion eines deutschen Künstlers, der den Panzer irgendwie erworben hatte. Die Verwaltung von Berlin-Mitte verbot zunächst die Installation mit der Begründung, der schwere Panzer würde den Boden vor der Botschaft zum Einsturz bringen. Das Verwaltungsgericht hob das Verbot auf. So durfte der zerstörte Panzer für eine Woche aufgestellt werden. Das Kanonenrohr richtete sich auf den Eingang der Botschaft. Mit der Botschaft, den Krieg gegen die Ukraine zu beenden.
Zufällig war ich bei dem Panzer, als die „Friedensdemonstration“ von Sahra Wagenknecht, die einige hundert Meter am Brandenburger Tor entfernt stattgefunden hatte, gerade endete. Auf dem Weg nach Hause strömten einige Hundert Wagenknecht-Anhänger an dem Panzer vorbei. Sie schwangen russische Fahnen. Einige der Symbole schienen aus der Zarenzeit zu stammen. Irgendwelche kommunistischen Splittergruppen hielten ihre Pappschilder hoch. Auch AfD-Anhänger, Männer und Frauen, waren dabei, sie hatten Deutschlandfahnen und AfD-Plakate dabei.

Die Flagge des imperialen Russland
Unbekannte hatten den Panzer in der Nacht zuvor vollständig mit roten Rosen zugedeckt. Als sei der Panzer zu betrauern. Nicht die von ihm Getöteten. Die Berliner Zeitungen berichteten, dass der russische Gemeindienst mit Wagenknecht-Anhängern dafür gesorgt hatte. Die Moskauer Abendnachrichten zeigten am gleichen Tag den mit Rosen bedeckten Panzer in Berlin und kommentierten, dass die Berliner gegen die „ukrainische Provokation“ aufgetreten seien.
In Beuron ist das alles sehr weit weg.
Aber ich musste an den Panzer an dem Mitsing-Abend in der Neidinger Fallhütte denken. Die Musiker aus Deutschland und der Ukraine sangen Lieder, die die Gäste aus ihren Ländern kennen. Alle spürten das Gefühl menschlicher Verbundenheit, zu dem der Homo Sapiens eben auch fähig ist. Obwohl die Musiker nur einmal kurz zusammen geübt hatten, spielten sie deutsche und ukrainische Lieder gemeinsam. Es war ein schöner Abend. Das Volkslied „Ти ж мене підманула“ ist in der Ukraine so bekannt wie Reinhard Meys „Über den Wolken“ bei uns. Franz Füß hatte für die ukrainischen Musiker einen Strauß Sonnenblumen mitgebracht.

Die Sonnenblumen von Franz Füß
Aber am meisten haben mich an dem Abend die Friedenslieder bewegt, die ich als Pfadfinder vor über 50 Jahren zuletzt gesungen habe. Ohne damals den Text zu verstehen. Erst jetzt ist mir aufgefallen, dass fast alle bekannten Lieder gegen den Krieg in englischer Sprache geschrieben wurden.

Das Antikriegslied „Where have all the Flowers gone“ habe ich zuletzt als St. Georgs-Pfadfinder in den 70er Jahren am Lagerfeuer gesungen. Jetzt wieder am Samstag in der Fallhütte.
Die Geschichte wiederholt sich, allerdings ohne Friedenslieder
Wer erinnert sich noch an die einseitige Aufrüstung der Sowjetunion mit „taktischen“ Atomwaffen, an den NATO-Doppelbeschluss von 1979 und an die von Gorbatschov und Reagan 1987 vereinbarte Zerstörung aller atomaren Kurz- und Mittelstreckenraketen? Einen historischen Moment lang hatte der Begriff „Frieden“ überall in der Welt dieselbe Bedeutung.

Das Peace-Zeichen als Menschenkette
Und was ist heute? Der blutigste Krieg seit 1945 tobt auf europäischem Boden und (fast) niemand redet davon. Populisten wie Sahra Wagenknecht und AfD-Politniks dominieren den öffentlichen Raum mit der Verbreitung russischer Propaganda.
Das Paradox der Forderungen nach Frieden in der Ukraine besteht heute darin, dass die Kriegsparteien zwar von Frieden sprechen, dabei aber verschiedenes meinen. Putins Russland will die Kapitulation des angegriffenen Landes, damit Friedhofsruhe herrscht. Die Ukraine will ihre Unabhängigkeit bewahren und in Ruhe leben. Was für viele im Westen eine Überraschung ist. Wer kannte oder kennt schon die Ukraine?
Dabei sterben durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine so viele Soldaten und Zivilisten wie noch nie auf der Welt seit 1945. Russland verliert pro Monat etwa 30.000 Kämpfer durch Tod oder Verwundung. Die Ukraine hat ebenfalls hohe Verluste. Nach zwei Jahren Krieg haben die Russen schon mehr das doppelte an Verlusten als die USA insgesamt im Vietnamkrieg zu verzeichnen. In Afghanistan betrugen die Verluste der Roten Armee der UdSSR nach zehn Jahren Krieg ungefähr 50.000 Mann.
Das Hochkommissariat für Menschenrechte der UN (OHCHR) schätzt, dass bisher etwa 12.000 ukrainische Zivilisten getötet wurden, darunter fast 1.000 Kinder. Die tatsächliche Zahl der Toten dürfte wesentlich höher liegen.
Weder Wagenknecht noch die AfD singen Friedenslieder. Statt des früheren Mottos „Lieber rot als tot“ gilt für sie „Lieber russische Besatzung als tot“. Der „Westen“ versucht den Bruch des Völkerrechts durch Russland mit einer militärisch lauwarmen Unterstützung der Ukraine zu ahnden. Eine klare Aussage, dass Russland seinen Krieg verlieren muss, wird von Kanzler Scholz vermieden. Wohl wegen der nuklearen Überlegenheit, die von Putin immer wieder angesprochen wird. Die Angst, die die Massen in den 70er und 80er Jahren auf die Straße brachte, lässt heute die meisten zuhause bleiben.
Damals wie heute wird der öffentliche Raum von Akteuren beherrscht, die von Frieden reden, aber – zum Teil sicher ahnungslos – der sowjetischen bzw. russischen Propaganda auf den Leim gehen. So wie vor 50 Jahren die Initiative „Generäle gegen den Krieg“ und andere bekannte Organisationen.
Wenn Schulhofschläger mit dem Recht des Stärkeren ihre Vorstellungen durchsetzen wollen, hilft das Motto Make Love, Not War nicht.
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Der deutsch-ukrainische Liederabend in der Fallhütte war ergreifend. Da kam uns der Krieg in der Ukraine plötzlich ganz nah. Das ukrainische Lied „Malven“ erzählt von den Müttern, die auf ihre Söhne warten, die im Krieg sind. Als Antwort darauf das 50 Jahre alte Anti-Kriegs-Lied “ Sag mir wo die Blumen sind“. Da gelangte die Betroffenheit über den Angriffskrieg, den Russland gegen die Ukraine führt, vom Kopf ganz tief ins Herz. Heidi und Manne